Venedig I 1972 |
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(460 km) |
Meine erste Radltour von München nach Venedig war eine reine Schnapsidee. Da keinerlei Aufzeichnungen oder Fotos existieren, können hier (50 Jahre später!) nur Erinnerungsfetzen wiedergegeben werden.
Man wird es einem frischgebackenen Abiturienten kaum glauben, aber ich hatte nur rudimentäre Vorstellungen von der Route. Ich hatte keinerlei Vorbereitungen getroffen, kein Kartenmaterial mit, Handys und Google Maps waren noch nicht erfunden. Die materielle und finanzielle Ausrüstung war äußerst bescheiden, immerhin hatte mein gebrauchtes Küchenradl schon einen Torpedo-Dreigang. Die Kleidung stammte aus US-Beständen, der Schlafsack war entsprechend schwer, ich schlief ohne Zelt im Freien.
Als sich mein Freund Gerhard endlich auch für diese Idee begeisterte, war ich schon 10 Minuten unterwegs und unerreichbar. Zunächst folgte ich dem Lauf der Isar bis Wolfratshausen, wechselte dort an die Loisach bis zum Kochelsee. Mit meiner mangelnden Gangschaltung schob ich die 5 km zum Kesselberg hinauf. Wo ich übernachtet habe, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Vom Walchensee gelangte ich über den Wallgauer Sattel wieder an die Isar nach Mittenwald und Scharnitz. Dann schob ich zum Seefelder Sattel hoch. Der Zirler Berg war zwar für Fahrradfahrer verboten, aber ich kannte keine Alternative. Die steile Abfahrt setzte den damaligen Bremsklötzen sehr zu. Überrascht stellte ich fest, dass ich in Innsbruck fast wieder auf München-Höhe war und die Alpenüberquerung von vorne begann. Die 43 km zum Brennerpass hinauf radelte und schob ich im Wechsel.
Oben angelangt, hatte ich die einfältige Vorstellung, dass die Alpen einigermaßen symmetrisch aufgebaut seien, ich demnach nach zwei Tagen in Venedig ankommen müsse. Zunächst rollte es entsprechend den Eisack flussabwärts über Brixen bis Bozen. Im flacheren Etschtal zog sich die Strecke über Salurn bis Trient. Nach meinem bescheidenen Weltbild konnte es bis Venedig nicht mehr weit sein. Allerdings fand ich dort keinerlei Ausschilderung nach "Venezia". Ein hilfsbereiter Passant empfahl mir, ich solle den Schildern Richtung "Padova" folgen. Vollkommen überrascht schob ich die Straße nach Pergine hinauf, wobei ich oben neben der Schlucht auf der aufgelassenen Felsstraße radelte. Hier machte ich meine erste Erfahrung mit der italienischen Küche. Bei uns zuhause waren Spaghetti Bolognese ein Hauptgericht. Hier fragte der Kellner gleich mehrmals "E secondo?" ("Was wünschen Sie als zweiten Gang?"), worauf ich jedesmal "Spaghetti!" erwiderte. Ich radelte am Lago di Caldonazzo und das Tal der Brenta (Valsugana) entlang und konnte nicht begreifen, warum ich immer noch von Bergen umgeben war. Am Ortsrand von Grigno suchte ich mir im Dunkeln einen Schlafplatz. Die Nacht war sehr unruhig, da es ständig um mich herum raschelte. Ich fürchtete, eine Ratte könne meine Nasenspitze abbeißen, und hüllte mich voll ein. Erst am Morgen entdeckte ich, dass ich neben einer Müllkippe lag.
Endlich erreichte ich in Bassano den Fuß der Alpen und die venetische Tiefebene. Mit triumphalen Glücksgefühlen radelte ich die 4 km lange Brücke über die Lagune nach Venedig. Auch wenn ich schon mal gehört hatte, dass dies eine Stadt der Kanäle sei, schleppte ich mein Fahrrad über etliche Brücken. Schließlich kapierte ich, dass dies ein sinnloses Unterfangen ist, stellte mein Radl am Piazzale Roma ab und hoffte, dass mein klägliches Ringschloss Diebe abschrecken könnte. Dann fuhr ich mit dem Boot (nach meiner Erinnerung damals noch zu einem Spottpreis) durch den Canal Grande zum Markusplatz. Anschließend setzte ich von Zattere zur Insel Giudecca über, wo sich die Jugendherberge befand. Nach all den unruhigen Nächten im Freien genoß ich die Geborgenheit im 20-Mann-Zimmer und schlief den tiefen Schlaf des Gerechten.
Nach ausgiebiger Stadtbesichtigung und Stadtrundfahrt mit dem Boot begab ich mich zum Bahnhof für die Rückreise. Dort erfuhr ich zu meinem Leidwesen, dass mir 2,- DM zum Zugticket fehlten. So beschloss ich, noch bis Verona zu radeln. Mein Fahrrad war nicht gestohlen worden, dafür aber meine Luftpumpe. Und prompt fing ich mir unterwegs einen Platten ein, so dass ich mein Radl kilometerweit bis zur nächsten Tankstelle schieben musste. Am Bahnhof von Verona reichte das Geld dann sogar für ein oder zwei doppelte Grappa. Wenn mich nachts nicht eine Mitreisende geweckt hätte, hätte ich sogar den Zug versäumt.
Mein Freund Gerhard war von meinen Erzählungen so begeistert, dass er an meiner nächsten Venedig-Tour (bei winterlichen Verhältnissen im März 1974) teilnahm.
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